[Spoiler] Das vierte Ende

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Iskar
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Wie der Titel bereits sagt, bitte nicht weiterlesen, wenn Ihr keine Spoiler zum Main Quest, der Rhalata- oder der Our Mark in this World Questreihe oder allgemein irgendwas im Spiel lesen wollt.
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Enderal hat mich, wie viele andere wahrscheinlich, an sehr vielen Enden mit sehr vielen Fragen zurückgelassen. (An manchen Stellen zu viele für meinen Geschmack, aber das ist sehr subjektiv, und die Art und Weise, wie die Fragen aufgeworfen wurden, war immer noch brilliant.) Auf viele dieser Fragen habe ich, vor allem hier, nun schon eine Reihe interessanter Antwortversuche gesehen, die Sinn in das Konglomerat aus möglichen Enden, High Ones, Veiled Woman, Cycles, Fleshless Ones, etc. bringen möchten. Die philosophischen Fragen, die darin in Übertragung auf die "reale" Welt aufkommen, sind interessant genug und werden hier schon an anderer Stelle diskutiert.

Ich möchte stattdessen eine weitere Perspektive auf den Inhalt des Spiels darlegen, die nicht in Konkurrenz sondern als weitere Facette zu den bereits dargebotenen Interpretationen gedacht werden sollte. Dazu muss ich ein wenig ausholen. Wenn also der erste Absatz dessen, was folgt, sich erstmal von Enderal zu entfernen scheint, bear with me, der Kreis wird sich später schließen. Dann wird auch der clickbaithafte Titel klarer. ;)

[Begriffe, die philosophisch nicht ganz risikoarm sind (Existenz, Realität, wahr, ...) habe ich bisweilen in Anführungszeichen gesetzt um zu verdeutlichen, dass ich sie nur unter dem Vorbehalt genauerer Definition oder Begründung verwende. Die damit verbundenen groben Denkfiguren sollten aber für meine Ausführungen genügen.]

I. Das Leben von Fiktionen
Warum sind wir traurig, wenn sich Tharaél in den Tod stürzt, wir Jespar/Calia zurücklassen müssen, wir den Propheten selbst opfern, oder wir das Spiel mit der Gewissheit beenden, dass alle Charaktere auf Enderal, vielleicht sogar ganz Vyn nun tot sind?
Letztlich, so ist uns doch bewusst, handelt es sich "nur" um (hervorragenden) Code, Scripting, Voice Acting und Writing. Niemand stirbt.
Allerdings haben sich wahrscheinlich auch die wenigsten an der sehr faktisch klingenden Aussage gestört, dass bspw. "Tharaél sich in den Tod stürzt", die die gleiche Struktur hat wie, dass "ich am Computer sitze und schreibe": Auf die Frage eines Dritten "Was tut Iskar gerade?" würdet Ihr demnach ohne zu zögern antworten "Er sitzt am Computer und schreibt.", auf die Frage "Was tut Tharaél gerade?" würdet ihr hingegen höchstwahrscheinlich antworten, dass Tharaél nichts tun kann, weil er nur eine Figur in einer Fiktion ist.
Dennoch ist die Aussage "Tharaél stürzt sich in den Tod." nicht per se falsch im Kontext der Fiktion, der sie entstammt, was uns zu des Pudels Kern bringt: Wenn wir ein fiktionales Werk rezipieren (ein Buch lesen, eine Film schauen, ein Videospiel spielen), lassen wir uns in einem impliziten sog. Fiktionsvertrag mit dem/den Autor/en darauf ein, das Erzählte zwar nicht als wahre Aussage über unsere alltägliche Realität zu nehmen, aber doch so zu behandeln, als ob es eine Realität eigenen Rechts wäre. Ohne diese Rezeption bedeutet die Fiktion nichts, weil niemand sich mit ihr auseinandersetzt.
Die Figuren und Begebenheiten, die Autoren (Schriftsteller, Filmemacher, Entwickler) mit ihren Werken "erschaffen", gewinnen somit in unserem Lesen, Schauen, Spielen erst ihre Realität. Ein Charakter in einem Computerspiel, Film oder Buch "lebt" als Fiktion dadurch, dass, und solange, wie wir ihn rezipieren (durch Lesen, Schauen, Spielen). Wenn wir das Spiel endgültig ausmachen oder das Buch ausgelesen haben, endet diese spezifische und sehr subjektive "Existenz" der fiktionalen Welt wieder. Da jeder Rezipient in seiner Individualität ein gegebenes Werk auch ganz individuell wahrnimmt, lebt die fiktionale Welt auch nicht in der Rezeption eines anderen fort: Dessen Rezeption erweckt eine ganz eigene Version dieser fiktionalen Welt zum "Leben".

Ich habe nun viel über die eine Seite von Fiktionen gesprochen, ihre Rezeption durch den Leser/Spieler/Schauer. Es fehlt noch die andere Seite, ihre "Erschaffung" durch den Autor:

II. Die Quellen der Erzählung
Warum erzählen wir etwas? Wie wird aus einer Abfolge von Zuständen ein (hier: fiktionales) Narrativ?
Wir lesen keine Bücher, in denen auf 1000 Seiten einzeln beschrieben wird, wie jemand Tag ein Tag aus das gleiche routinierte Leben führt. Wir lesen vielmehr Bücher, die damit beginnen, dass einer dieser Tage anders ist als zuvor, was eine Kette von zusammenhängenden und ungewöhnlichen Ereignissen in Gang setzt. Etwas unerwartetes geschieht, Interessen kollidieren, äußere Einflüsse verhindern die Aufrechterhaltung der Routine - diese sog. Ereignishaftigkeit ist die Keimzelle des Narrativs. Aus ihr erst erwächst die durch Anfang und Ende strukturierte Handlung. Die (ereignislose) Routine hat weder wohldefinierten Anfang noch Ende und ist damit quasi "unerzählbar". Die Handlung entfaltet sich erst dadurch, dass Charaktere auf den Konflikt im weiteren Sinne reagieren und re-reagieren.

Mit diesen beiden Konzepten - Narrativ durch Ereignishaftigkeit und Fiktionale Existenz durch Rezeption - können wir uns nun wieder auf Enderal stürzen.

III. Der Tod der Zivilisationen
Tealor Arantheal erzählt dem Propheten zu Beginn des Hauptquests, der Zyklus bestehe darin, dass Zivilisation für Zivilisation aus geringen Anfängen heranwächst, gedeiht und schließlich auf dem Gipfel ihres Ruhms einfach verschwindet.
Das scheint erst einmal im krassen Gegensatz zu stehen zu dem, was wir historisch bei den meisten Zivilisationen beobachten: Aufstieg, Glanz, Dekadenz, langsamer Niedergang und Assimilation in die folgenden Zivilisationen. Es gibt aber einen Bereich, wo uns dieser Zyklus als völlig natürliches Phänomen begegnet, ohne dass wir ihn bewusst wahrnähmen: Die fiktionalen Realitäten, in die wir uns hineinarbeiten, die sich entfalten und auf dem Höhepunkt ihrer Entfaltung, wenn wir das ganze Werk erfasst haben, mit einem Schlag verschwinden, indem wir das Buch endgültig beiseite legen oder das Spiel nach Beendigung des Hauptquests ausmachen.
In diesem Sinne ist der Zyklus in Enderal ein Ebenbild unserer Rezeptionshistorie: Gothic I, Gothic II, Amalur, Morrowind, Arktwend, Myar Aranath, Oblivion, Nehrim, Skyrim, Enderal, im weiteren Sinne sogar jede Strategiespielkampagne oder jedes Spiel, das wir mit einem Narrativ unterlegen. All diese fiktionalen Welten bilden unseren (extrinsischen) Zyklus, der immer weitergeht, solange wir Hauptquests beenden und Entwickler neue Welten erschaffen, und damit ursprünglich den Zyklus erst gestartet haben.

Was uns zur Veiled Woman bringt, die die unerzählbare Ereignislosigkeit von Kadath beendete, indem Sie Konflikte schuf und den (intrinsischen) Zyklus in Gang setzte. Denn was brauchen Entwickler, um eine neue Welt zu schaffen? Ein Narrativ, Ereignishaftigkeit. Genau die erzeugt aber im Spiel die Veiled Woman. Die Allmacht des Entwicklers gegenüber seinem Spiel spiegelt sich in ihrer Rolle ebenso, und ihre Aussage sie sehe alle Eventualitäten, was allerdings nichts besonderes sei für sie, ist die direkte Entsprechung zum Entwickler, der den Code sieht, der alle Eventualitäten des Spiels beinhaltet. In dieser Perspektive wurden die negativen Aspekte des Lebens nicht erschaffen, um die positiven wertschätzen zu können (ich persönlich finde die "Ohne Schatten kein Licht" Argumente immer etwas wohlfeil), sondern um überhaupt etwas erzählen zu können, was die Vorbedingung jeder Fiktion und damit jedes solchen Spiels, Buches oder Filmes ist.

Blieben noch die High Ones, konzentriertes Bewusstsein aller Bewohner einer in einem vorigen Zyklus vernichteten Welt. Genau wie unsere Erinnerung an ein Narrativ, mit dem wir uns befasst haben, entstehen sie als Aggregat in dem Moment, wo wir (extrinsisch) dieses Narrativ beenden, oder (intrinsisch) alle durch den Beacon sterben. Sie haben tatsächlich keine eigenen Intentionen, sondern als unsere Erinnerungen an bekannte Erzählstrukturen sind sie eher eine notwendige Konsequenz unserer eigenen Erfahrungen. Dass wir mit den Erzählstrukturen solcher Spiele vertraut sind (Einführung, Tutorialquests, Charakterentwicklung, Nebenquests, Klimax der Hauptquest, Plottwist, Finale) genügt, um uns in einem neuen Spiel, genau wie die High Ones in Enderal, immer wieder aufs Ende hin zu nudgen. Wir folgen unter diesem Einfluss ganz von selbst dem vorgezeichneten Weg.
Dieser Weg endet dann unweigerlich(?) mit dem Ende des Hauptquests und dem "Tod" der fiktionalen Realität, indem wir uns nicht mehr mit ihr beschäftigen.
Der Beacon ist somit als Hauptquest perfekt, insofern als er das Prinzip des Hauptquests selbst verdeutlicht: Er hält als orientierendes Leuchtfeuer das ganze Spiel zusammen, hätte vielleicht sogar die Macht die Erinnerung an alle vorangegangenen Spiele verblassen zu lassen, führt aber am Ende durch sein Abschließen wieder nur zum "Tod" der Fiktion und ihren Eingang in die Reihe unserer Erinnerungen/High Ones.

In Kürze, der Zyklus entspricht der Folge von Fiktionen, mit denen wir uns befassen, die Veiled Woman stellt die Autoren/Entwickler dar, die High Ones, sind unsere Erinnerungen an vorige Fiktionen, und der Beacon stellt den Hauptquest oder den Haupthandlungsstrang dar.

IV. Das vierte Ende
Nun zu uns, den Spielern, den Propheten. Wie Ryneus in Silvergrove korrekt bemerkt, scheint ein Teil des Propheten in der Spielwelt zu fehlen, nicht da zu sein. Intrinsisch referenziert das auf die Fleischlosigkeit des Propheten, extrinsisch spiegelt es aber sehr gut den Fakt wieder, dass der relevante Teil des Hauptcharakters nicht im Spiel sondern vor dem Computer sitzt, und damit im Spiel selbst "fehlt" (was auch trivialerweise erklärt, wieso Ryneus den Willen des Propheten nicht beeinflussen konnte - unsere Wahrnehmung bestimmt das Spiel und damit Ryneus in diesem Fall, unsere Handlung aber immer noch die Hand an der Maus).
Intrinsisch ist der Prophet die wiedererweckte Projektion eines Verstorbenen, der den unerfüllten Wunsch hatte, relevant, signifikant zu sein und andere retten zu können. Extrinsisch ist er auch eine Projektion, und zwar genau dieser Bedürfnisse bei uns Spielern. Niemand würde Golfur Silverman spielen wollen, der jeden Tag nur auf dem Markt steht. Wir wollen den Charakter spielen, an dem alles hängt, der die Geschichte vorantreibt, der speziell ist.
Wer den zweiten Absatz (Ereignishaftigkeit) mit dem Zyklus-Gedanken zusammenbringt, mag nun die spitzfindige Frage stellen, ob auf der ganz großen Skala das Immerwiederkehren des Zyklus dem Ganzen nicht die Ereignishaftigkeit raubt, weil es sich ohnehin immer wiederholt und damit eigentlich eine kosmische, unerzählbare Routine darstellt. Die Antwort darauf gibt uns der Black Guardian: Wir spielen nicht irgendeinen Propheten in irgendeinem Zyklus, sondern den ersten Propheten, der sich seiner Fleischlosigkeit und seiner Rolle in dem Ganzen vollends bewusst wird, was selbst die High Ones und die Veiled Woman nicht voraussehen konnten - weshalb die Geschehnisse dieses Zyklus überhaupt erzählt werden (können!).
Trotzdem, so scheint es, hilft uns das nicht den Tod fast aller zu verhindern (auch wenn in einigen Enden "nur" ganz Enderal stirbt, so ist dies doch letztlich das gleiche wie der Tod aller: Enderal ist die Gänze der erzählten Welt in diesem Spiel, andere Kontinente und deren Bewohner existieren nur als Gesprächsreferenzen, stirbt also alles auf Enderal, so auch das ganze Spiel.)
So scheint es. Aber es gibt ein viertes Ende.
Genau wie der Prophet sind wir als Spieler ersteinmal ausgesprochen vorhersehbar. Wir werden jedem Questchen folgen, die Handlung immer weiter vorantreiben in dem Bedürfnis aus unserem Charakter jenen signifikanten Helden zu machen, ihn nicht als namenlosen Abenteurer zu belassen.
Nachdem wir als Spieler aber den Zyklus auf Enderal einmal mitgemacht haben, befinden wir uns in einer analogen Position zum Propheten, der sich erstmals seiner Rolle und Natur vollends bewusst ist: Wir haben den Zyklus verstanden und wissen wer ihn treibt: Wir selbst, genudgt von unseren Erfahrungen (High Ones) mit der üblichen questbasierten Erzählstruktur, die erzeugt wurde von den Entwicklern (Veiled Woman).
Es wird im Spiel immer wieder gesagt, die Menschheit könne den Zyklus überwinden, wenn Sie nur ihr Ego überwinden könne. Soweit die intrinsische Botschaft. Extrinsisch betrachtet hat aber keiner der NPCs ein Ego, nur Code, der seine Handlungen vorbestimmt. Der einzige mit Ego ist der Prophet, der Spieler. Wenn wir also Enderal ein zweites Mal, in einem scheinbar weiteren Zyklus beginnen, gibt uns die Erkenntnis aus dem vorigen, das Bewusstsein unserer Rolle, die Möglichkeit den High Ones und der Veiled Woman ein Schnippchen zu schlagen und den Zyklus zu durchbrechen: Indem wir nicht unserem Ego nachgeben unsere Projektion zum mächtigsten und signifikantesten Charakter im Spiel zu machen, zum Helden des Hauptquests, sondern den Hauptquest nicht durchspielen, die Erzählung nicht beenden - ganz analog zu dem einzigen was Enderal intrinsisch gerettet hätte: Den Beacon nicht zu bauen, dessen Baufortschritt 1:1 mit dem Fortschritt des Hauptquests korrespondiert.

Das vierte Ende besteht darin Enderal nicht zu beenden. Denn verantwortlich für Leben und Tod jeder Fiktion sind nur wir, die Spieler und Leser.

PS: Ein etwas gewagter Nachtrag zur Rolle der sieben Opfer für die Veiled Woman in der Our Mark on this World Quest: In Fortsetzung der obigen Analogien (Veiled Woman - Entwickler, Prophet - Spieler, High Ones - alte Spiele) stellen sie für mich Alpha- und Betatester dar: Leute, die ihre "bloße" Konsumentenexistenz bezüglich des Spiels aufgeben, um etwas bedeutsames zu tun: Sie erlauben laut der Quest der Veiled Woman auf der Spielwelt zu wandeln, was genau das ist, was Tester für Entwickler tun: Sie schenken ihnen ihre Zeit, um den Entwicklern Rückmeldung aus der direkten Erfahrung der Spielwelt zu geben, erlauben dem Entwickler quasi "to walk this world", die er sonst nur im Prozess ihrer Erschaffung, in Code, Scripting, Writing sieht.
Iskar
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Ich glaube mein ...Traktat ist damit erstmal fertig.

Wenn die Menge an Gedanken, zu denen es mich angeregt hat, nicht genug Zeugnis dafür ist, sei es hier nochmal explizit gesagt: Großartiges Spiel, interessante Charaktere, hervorragendes Dungeon-Design, brilliante Story und tolle Dialoge. Ich hab gar nicht genug Hüte zum ziehen. :thumbsup:
Cirra
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Sehr schön geschrieben! Ja, mich erinnert das ganze Spiel oftmals an ein modernes Gedicht - da ist viel Raum zum weiterdenken, selbst weiter philosophieren zum selber Kopf machen. Richtig gut, wie du hier einige Fäden weitergesponnen hast. Mir kam dieser Gedanke zum "vierten Ende" auch schon.

- Den Beacon nicht zu bauen, dessen Baufortschritt 1:1 mit dem Fortschritt des Hauptquests korrespondiert.
Das vierte Ende besteht darin Enderal nicht zu beenden. -

Was ich definitiv in meinem nächsten Spieldurchlauf auch als 'Ende' nehmen werde. Denke ich. :mrgreen:

Schön auch, wie Enderal sich dadurch zu einem wiederspielbaren Titel macht, der trotzdem - oder grade wegen - seiner Dichtheit und Tiefe verwirrt, irritiert und einem durchweg Aufmerksamkeit abverlangt. Jetzt bei meinem zweiten Spiel kleine Hinweise zu sehen, die mich letztesmal höchstens irritiert haben, machen mich jetzt zufrieden. In der Hinsicht sprengt Enderal auf jedem Fall die vierte Mauer. :thumbsup: Und kann definitiv mit so manchen Studiengängen der Geisteswissenschaft an Inhalt und Anspruch mithalten. (imho) :mrgreen:

Was will man als Spieler mehr?
Iskar
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25.03.2019 20:15Cirra hat geschrieben:
Was will man als Spieler mehr?
Kekse.
25.03.2019 20:15Cirra hat geschrieben:
Schön auch, wie Enderal sich dadurch zu einem wiederspielbaren Titel macht, der trotzdem - oder grade wegen - seiner Dichtheit und Tiefe verwirrt, irritiert und einem durchweg Aufmerksamkeit abverlangt. Jetzt bei meinem zweiten Spiel kleine Hinweise zu sehen, die mich letztesmal höchstens irritiert haben, machen mich jetzt zufrieden. In der Hinsicht sprengt Enderal auf jedem Fall die vierte Mauer. :thumbsup: Und kann definitiv mit so manchen Studiengängen der Geisteswissenschaft an Inhalt und Anspruch mithalten. (imho) :mrgreen:
Allerdings. Es ist bezeichnend, dass es genug Dichte hat, um durch die obige Interpretation nicht entzaubert zu werden oder als platte Allegorie dazustehen, sondern sie als eine von mehreren möglichen Sichtweisen stehen lassen zu können, sodass man stets eine Fülle schimmernden Facetten vor Augen hat.

Die vierte Mauer wird zwar meiner Ansicht nach nirgendwo explizit gebrochen (wie hingegen bspw. in der Stanley Parable), aber die narratologischen Parallelen zwischen dem Propheten und der Art, wie wir als Spieler mit dem Narrativ umgehen, sind schon ein subtiler Wink mit dem Zaunpfählchen. Auch die Fülle an Charakteren, die sich scheinbar ihrer "tumben" Rolle als NPCs bewusst zu sein scheinen: Die Anhänger des Kultes der Veiled Woman und auch die Rhalata - eine Gruppe von NPCs, die sich aktiv der Erzählwelt und damit dem Erzähltwerden durch Transzendenz entziehen wollen, dadurch erst ein Teilnarrativ schaffen und bezeichnenderweise am Schluss durch ihr Verschwinden ein sprichwörtliches Loch im Narrativ/der Erzählwelt zurücklassen.
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Ein Nachtrag zum Ende des Spiels:

Bezeichnenderweise heißt die letzte Quest des Hauptstrangs "Katharsis", was griechisch für Läuterung/Reinigung ist. In der Theorie des klassischen Dramas wird diese Katharsis allerdings beim Publikum (also hier beim Spieler) erreicht (und bezieht sich nicht auf eine Läuterung der NPCs). Diese klassische Katharsis entsteht durch "Eleos" und "Phobos" - "Mitleid" mit dem Los der fiktionalen Charaktere und "Furcht" um unser eigenes, reales Schicksal in Anbetracht der dargestellten möglichen Katastrophe.
Diese Katharsis stellt das narratologische Gegenstück zur Katharsis/Läuterung im Spiel dar und letztere bewirkt genau erstere: Genau wie der Haupthandlungsstrang (dargestellt durch den Beacon) abstrakt zur Katharsis beim Zuschauer führt, bewirkt die Läuterung allen Lebens auf Enderal bei uns Furcht und Mitleid und damit unsere eigene Katharsis.

Darüberhinaus ist der tragische Konflikt, der in Enderal zur Katastrophe führt (alle sterben) strukturell sehr nah an dem der klassischen Tragödie: In letzterer ist es immer der Konflikt des Protagonisten, der zwischen widerstreitenden Anforderungen/Erwartungen gefangen ist und nur scheitern kann, weil er eine verletzen/missachten muss (s. bspw. Antigone, die am Widerspruch zwischen göttlichem und menschlichem Gesetz heroisch scheitert). In Enderal sind wir intrinsisch gefangen zwischen den menschlichen Akteuren und den High Ones und extrinsisch zwischen unserem Wunsch Enderal zu retten und andererseits das Spiel durchzuspielen (was Enderal unweigerlich vernichtet).

Je mehr ich darübernachdenke desto sorgfältiger und raffinierter erscheint mir das Narrativ, das hier gestrickt wurde, und gleichzeit sein eigenes Metanarrativ darstellt. Ganz große Klasse!
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