Nachdem ich Zeit hatte die letzten Ereignisse des Hauptquests in Ruhe zu durchdenken, ein paar Gedanken zur "Wirklichkeit" des Erlebten im Allgemeinen und des Propheten im Speziellen.
Zuallererst muss ich bemerken, dass vieles von dem, was der Black Guardian sagt, mich in meiner narrativen Interpretation des ganzen bestärkt (Siehe "
Das vierte Ende"): Er nennt sich eine "Observer of the Game" und spricht vom Zyklus als einem "cosmic game", von dem er nicht wisse, weshalb die Veiled Woman es gestarte habe. Ebenso wenig kann er sich erklären, weshalb sie ihr übliches Muster diesmal durchbricht und den Propheten nicht sterben lässt, nachdem der Kaiser ihn zurückgelassen hat. Beides ist aber in der narrativen Interpretation völlig einleuchtend: Die Veiled Woman als Abbild der Entwickler und speziell der Entwickler von Enderal startet den Zyklus für den Spieler (eine extrinisische Begründung, die der arme Black Guardian als NPC nicht nachvollziehen kann) und verhält sich in Enderal eben anders, genau weil die Entwickler von Enderal sich anders verhalten als andere Entwickler: Sie machen den Zyklus offensichtlich und geben uns die Chance ihn zu durchbrechen.
Genug aber der Vorrede, und zur Sache:
Traumblumenelixir:
Ich finde es unplausibel, dass das Ende in Qyra ein Traum (im Gegensatz zur erzählten Realität) sein soll: Die These beruht nur auf Yuslan's Einlassungen zum Dreamflower Elixir, die anzuzweifeln sind.
A) gibt er selbst zu, keine empirischen Daten zu haben, sondern nur eigene Spekulationen.
B) gibt es die Berichte von Skaragg Kriegern, die das Elixir als Belohnung bekommen. Die Skaraggs würden wohl kaum ihre besten Krieger in ein Koma versetzen wollen. Denn egal, wie es der Einnehmende danach erlebt, der Rest des Stammes würde ihn danach ja als im Koma liegend sehen.
C) passieren nach Einnahme des Elixirs eigentlich nur noch Dinge, die der Prophet/Spieler sich eben nicht in einer Traumwelt herbeiwünschen würde.
Daher bleibt nur die Interpretation, dass das Elixir schlicht und einfach in einem kritischen Moment das Eintreten einer günstigen Eventualität bewirkt. Vielleicht hat es auch gar keinen Einfluss auf die Eventualitäten und der Prophet hat in diesem Ende schlicht Glück, oder ist als
arguably mächtigster Charakter der Spielwelt schlicht der mit der höchsten Überlebenswahrscheinlichkeit.
Traum eines Sterbenden:
Die These, dass das ganze Spiel nur der Traum des Protagonisten ist, erlebt im ewig verlängerten Augenblick, kurz bevor er in der Roten See ertrinkt, ist weder be- noch widerlegbar. Dies trifft natürlich auf alles bewusste Erleben, auch unser eigenes "reales" Erleben zu. Diese Frage ist aber letztlich im reinsten Sinne metaphysisch und damit irrelevant (wie alle Metaphysik): Wir können die Antwort in keinem Fall ermitteln, weil wir der Subjektivität unseres Erlebens nicht entrinnen können, und wenn wir die Antwort erführen, hätte sie keine Auswirkung auf uns, weil wir keine sinnvollen Konsequenzen daraus ziehen können.
Es ist ein interessanter Gedanke, aber letztlich keiner, der Einfluss auf das Spiel oder unser Leben überhaupt hat/haben sollte.
Fleischlosigkeit:
Ich denke, dass die "Fleischlosigkeit" des Propheten nicht allzu wörtlich zu nehmen ist. Mit Sicherheit ist der Prophet keine Illusion oder Phantasma, sondern ein Lebewesen aus Fleisch und Blut: Er kann durch körperliche Verletzungen sterben, erkranken, sich heilen lassen, essen, trinken, Sex haben. Sein Kröper verhält sich in allen messbaren Belangen genau wie ein "realer" Körper und ist damit einer: If it walks like a duck and quacks like a duck ...
Dass die Leiche im Tempel unsere eigene (echte) ist, halte ich für unplausibel. Zum einen ist mir kein Meeresarm an der Westküste Enderals aufgefallen, der bis unter den Tempel reichen würde, zum anderen erscheint es sehr unwahrscheinlich, dass die beiden Körper zusammen in ein verfallenes Haus gespült werden und dann da ordentlich nebeneinander liegen. Vielmehr ist das wohl eine gezielte Illusion des Tempels, die zwar auf etwas reales anspielt (nämlich, dass der Prophet zwischendurch durchaus tot war), aber selbst im Rahmen der erzählten Realität nicht real ist.
Da das Spiel ohnehin einer starken Körper/Geist Trennung das Wort redet und an mehreren Beispielen (Experimente des Vaters mit Seelen-Übertragung, Übertragung des Geists in einen Maschinen Avatar beim Black Guardian und Pahtira) deutlich macht, dass Identität als ausschließlich an Seele/Geist gekoppelt angesehen wird, während der Körper nur eine Hülle ist, denke ich, dass es ohnehin von geringerer Wichtigkeit ist, ob der Körper zwiscendurch tot war. Die "Erschaffung" des Propheten durch die High Ones ist dann eher die Wiederbelebung mit zusätzlichen geistigen Fähigkeiten, im soeben gestorbenen Körper, basierend auf der Projektion des unerfüllten Wunsches. Auch Jespar stirbt zwischendurch und wird von der Veiled Woman wiederbelebt, ohne dass wir an seiner Identität als Jespar danach zweifeln würden.
Als letztes Argument dafür, dass der Prophet kein bloßes Phantasma ist, sondern ein "realer" Mensch aus Fleisch und Blut, mag gelten, dass auch er von der Läuterung bedroht ist. Diese bedroht aber nach Aussage des Black Guardian nur organisches Leben.
Summa summarum droht das Spiel zwar an einigen Stellen an den Fiktionsvertrag zu brechen, indem alles bisher erlebte selbst in der erzählten Realität zum bloßen Traum erklärt würde, tut dies aber nur intrinsisch durch Aussagen ebenso fehlbarer Charaktere, die irren können, und nicht explizit und endgültig (wie wenn ein allwissender Erzähler aus dem Off uns mitteilen würde, alles sei nur ein Traum gewesen.) Dadurch schaffen sie eine sehr interessante Spannung, in der man die Ränke der High Ones (intrinsisch) bzw. die Kniffe der Erzähler/Entwickler (extrinsisch) ständig argwöhnisch beäugt, ohne von einem plumpen "alles nur ein Traum!" aus der fesselnden Immersion der Erzählung katapultiert zu werden. Brilliant gelöst!
Interessant finde ich insgesamt, dass ein so starker Körper-Geist Dualismus im Spiel vorherrscht, sowohl im Hauptquest als auch der Rhalata Nebenquestreihe. Die Einstellung des Spiels ist damit sehr viel näher an gnostisch-religiösen Vorstellungen (siehe bspw. Katharer, Manichäer) als - bemerkenswerterweise - sowohl am Christentum (Auferstehung des Leibes!) als auch dem modernen materialistischen Atheismus (Sartre: Ich habe nicht einen Körper, ich bin mein Körper.)
Insbesondere die Rhalata erinnern mich sehr an die mittelalterlichen Katharer mit ihrer Ablehnung alles Irdischen als bloßem Gefängnis, dessen Annehmlichkeiten (Essen, Trinken, Schlafen, Sex) nur vom Demiurg erschaffen seien, um uns hier zu binden.