Dramaturgie der Rahmenhandlung

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Questionaire
Lumpensammler
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Für mich steht eins fest: Enderal hat wirklich eine umfassende Dramaturgie, und sie begeistert mich umso mehr, je länger ich darüber nachdenke, auf wievielen verschiedenen Abstraktionsebenen man die Geschichte sehen kann.

Jede Ebene scheint vollkommen unabhängig von den anderen zu sein, und es ist, als würden verschiedene Informationen im Spiel mehrere übereinandergelagerte Storys beschreiben, wo aber jede bereits für sich stehen könnte. Man könnte viele Elemente des Spiels und der Story weglassen, ohne dass man sie vermissen würde - dennoch sind sie enthalten.

Für mich gleicht alles einer Zwiebelschale - man kann eine Ebene verstehen und nachvollziehen und darüber reden ohne ins Tiefere vorzudringen

Ebene 1:
Der MC hat eine physische Ebene, und die Geschichte auch. Er handelt als typischer Held eines Epos und verändert seine Welt. Wir erleben die Handlung in einem Zyklus als seinen Tod, seine Verwandlung in einen Propheten und dessen Erleben in dem Verlauf der Geschichte. Man kann eine Geschichte so aufspannen und sie ist auch spannend. Genau genommen bedarf es hierfür keiner Rolle der Verschleierten Frau, keinem Alten Mann, keinem Schwarzen Wächter. Alle drei sind nur Beiwerk, die man durch viel profanere Dinge ersetzen könnte.

Ebene 2:
Aber SureAI haben mehr daraus gemacht. Sie haben dem MC auf der zweiten, seiner biographischen Ebene eine Geschichte gegeben. Sie verkörpert den Konflikt, den er in Bezug auf seine Familie mit sich herumträgt - und seine Suche. Auch das ist streng beschränkt auf einen Zyklus.
[+] spoiler
Wir wissen nicht zu 100%, ob er der Bastard war oder nicht. Dem ersten Traum nach zu urteilen ist er älter als seine Schwester (er habe ihre Krippe angezündet), und warum sollte sein Vater ein weiteres Kind (seine Schwester) zeugen, wenn er beim ersten bereits vermutet, dass es nicht seins ist? Meiner Meinung nach gibt es kaum eine vernünftige Erklärung dafür, warum er der Bastard in der Familie sein soll. Mir ist der Gedanke plausibel, dass sein Vater einfach durch Misstrauen irgendwann durchgedreht ist, die Familie selbst getötet hat (vermutlich wie in Traum Nr. 3), und es seinen Kindern in die Schuhe schieben möchte. Oder der Vater hat den Tempel gerufen. Der MC ist vermutlich geflohen.
Ebene 3:
Dahinter entspinnt sich jetzt die Geschichte, dass der MC eine bestimmte Rolle einnimmt, die in jedem Zyklus wiederkehrt. Noch immer steht aber die plausible Annahme, dass der MC in nur einem Zyklus existiert. Man könnte es als epische Ebene bezeichnen. Das erklärt vieles der Abläufe, und es hilft beim Einordnen. Der Zyklus wird zu einem Symbol für den Aufstieg und Fall einer Zivilisation, die dahinterliegenden steuernden Kräfte lassen sich aber nur bedingt erklären. Wer der alte Mann ist und wer die verschleierte Frau und was die Motive der Hohen sind, wird nicht wirklich geklärt. Besonders seltsam ist die Rolle des Schwarzen Wächters. Warum?
[+] spoiler
Diese Rolle hat auf Ebene 1 und 2 keine Bedeutung! Der Schwarze Wächter wird in einem Maße besungen, die in keinem Verhältnis zu seinem effektiven Einfluss auf die Story steht. Man könnte ihn weglassen und die Geschichte wäre weiterhin vollkommen rund. Und gerade weil er so entbehrlich ist, ist er wahrscheinlich so bedeutsam für tiefere Ebenen des Verständnisses. Zu allem Überfluss handelt der Wächter auch noch deutlich unreifer als die Schwere der Rolle suggeriert: Er erzählt selektiv Lügen (der Begleiter sei tot) und riskiert den Tod vom MC und sich selbst beim Versuch, mit dem MC zu tauschen (und damit dem MC die Chance zu nehmen, "seine" Schicksalsentscheidung zu treffen). Der Schwarze Wächter macht auf dieser Ebene absolut keinen Sinn!
Ebene 4:
Und es bleibt trotzdem, auch wenn man Ebene 3 soweit nachvollzogen hat, etwas unklar, was mir auch in den anderen Interpretationen etwas zu kurz kommt:
- Die Skills heißen "Erinnerungen".
- Der Satz "Was bedeutet schon Zeit..." im Intro. Und die Vorwegnahmen im Intro.
- "Alles beginnt mit den Träumen. Erinnert euch"
- Die Tatsache, dass dem MC die Maschine im Verlassenen Tempel "so seltsam bekannt vorkommt"
Für mich ist es nur auf eine Weise deutbar: Sofern man das Symbol des Propheten als eigenes Wesen sehen möchte, ist der MC dieses Symbol. Er lebt(e) in jedem Zyklus, und die Visionen sind echte Erinnerungen. Es ist die metaphysische Ebene, in der die Gesamtheit aller Zyklen und aller Welten selbst betrachtet wird. Mehr noch: Die Story der vielen Zyklen verläuft nicht wiederholend-kreisartig, sondern kommt in genau diesem Zyklus an einen entscheidenden Punkt: Zum ersten Mal in allen Zyklen findet der MC den Weg zum Schwarzen Wächter, ehe er vergeht. Die verschleierte Frau führt diese Progression ein - und der Schwarze Wächter erweist sich als die letzte Prüfung. Tatsächlich denke ich, ist das die einzige Bedeutung des Schwarzen Wächters: Er ist die Prüfung, die über den Fortgang der Geschichte entscheidet.

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Lasst mich an euren Gedanken dazu teilhaben :)

Achja: Welche kulturellen Quellen sind denn eigentlich in Nicholas Werk eingeflossen? Schriften von C.G. Jung - aber was noch?
Zuletzt geändert von urst am 28.12.2017 09:14, insgesamt 1-mal geändert.
Grund: spoiler korrigiert :)
greenapple
Gauner
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Hm...warum dröselst du das eigentlich so auf, also was ist deine Idee dahinter? Macht es denn Sinn, eine physische Ebene (wie du es nennst) losgelöst von allem anderen zu betrachten? Das wäre ja quasi das hirnlose Kloppen von den ersten PC Spielen und keinesfalls ein modernes RPG. Ohne diese anderen "Ebenen" fehlt dem Spiel doch einfach alles Mitreißende,
was man durch Spannungssteigerung, unerwartete Wendungen, Identifizieren mit PC/NPCs usw erreicht, weshalb ich nicht glaube, dass hier eins ohne dem anderen funktionieren würde (Versuch doch mal Enderal gedanklich in der von dir genannten biographischen Ebene durchzuspielen -> fänd ich echt lahm...oder ohne sie -> es würde bereits der verstörende Anfang fehlen xD)
Questionaire
Lumpensammler
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Mir geht's nicht darum, die Handlung nur als Spiel zu betrachten, sondern die einzelnen Ebenen zu entwirren.

Das Problem ist doch, dass manche Symbole irgendwie gar nicht so recht interpretiert werden können, wenn man sie nur im Kontext von mehreren Zyklen betrachtet. Ich steige z.B. nicht durch, was das alles mit dem Schwarzen Wächter so soll. Keiner kennt ihn auf der Welt, keiner war dort, aber es werden Lieder über ihn gedichtet in jedem Zyklus und er gerät zum Mythos? Ich verstehe dieses Symbol wie auch viele andere einfach nicht, und kann es nicht einordnen.

Den schwarzen Wächter aber als "Teil" des Protagonisten zu sehen, macht Sinn. Nur eben nicht auf der gleichen Ebene, auf der man sich mit Zyklen und irgendwelche Hohen beschäftigt...
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